Ich schreibe diese Zeilen, weil mein Mann und ich Eltern sind und ich neuerdings trotzdem das Gefühl habe, mich von diesem Begriff abgrenzen zu wollen. Eventuell ahnt ihr es schon: Es geht um den Film “Elternschule”.
Warum abgrenzen? Weil ich immer dachte, Eltern wären die zwei wichtigsten Bezugspersonen eines Kindes, die nichts mehr wollen, als dass es ihm gut geht. Die mit Nähe, Fürsorge, Zuwendung und vor allem Liebe immer für ihr Kind da sind. Die ihrem Kind helfen wollen, in dieser Welt möglichst gut zurecht zu kommen.
Wenn allerdings Menschen Erziehung mit Unterdrückung und absoluter Kontrolle verwechseln, Menschen ihre Kinder gefügig machen wollen, damit sie “funktionieren”, dann möchte ich mit diesen Menschen nicht dieselbe Bezeichnung tragen.
Weil ich es nicht glauben kann, sehe ich mir den Film an
Nachdem ich vor einigen Tagen die ersten Negativkritiken über den Film lese, bin ich fassungslos und kann ehrlich gesagt nicht glauben, dass so etwas in einer Klinik passiert. Und aus diesem Unglauben heraus entscheide ich mich dafür, den Film anzuschauen, quasi aus Recherche-Zwecken.
Da ich bis dahin viele besorgniserregende Instagram-Posts von bindungsorientierten, bedürfnisorientierten Mamis gelesen habe und auch ein Kommentar von Kinderarzt Herbert Renz-Polster diesen Recht gibt, ist mir bereits klar, dass ich keinen gemütlichen Popcorn-Kino-Vormittag verbringen werde. Ich wappne mich innerlich. Mir ist bewusst, das könnte schlimm werden.
An einem sonnigen Sonntagvormittag gehe ich also zu einem kleinen Art-Kino in München und bin als erstes gespannt, wer noch im Publikum sitzen wird. Irgendwie hoffe ich, schon von Weitem lauter junge Eltern in Hab-Acht-Stellung ausmachen zu können, die den Film auch ihrer persönlichen Kritik unterwerfen wollen.
Denn schließlich sind sie es, die die veralteten Erziehungsmethoden in Frage stellen würden, so meine naive, romantische Vorstellung. Der kleine Zuschauer-Saal ist zu Dreivierteln besetzt, zu meiner Überraschung größtenteils mit Menschen 50+ eher in Richtung 60+. Einige junge Frauen sind dabei, bei denen ich die Hoffnung habe, sie würden aus denselben Gründen im Kino sitzen wie ich.
Der Film beginnt und es wird ziemlich schnell klar, dass keiner erläutern wird, worum es im Film geht oder was dessen Absicht ist. Ein Dokumentarfilm eben, nur ohne erklärende Kommentarstimme. Den den Film anpreisenden Medien und dem Internetauftritt des Films konnte man vorher jedoch schon Folgendes entnehmen:
„Wie gehen wir richtig mit unseren Kindern um – und mit uns selbst? Wie „ticken“ Kinder? Was brauchen sie von uns Erwachsenen – und was nicht?
Für Antworten auf diese und viele weitere Fragen begleiten wir Kinder und ihre erschöpften Eltern durch ihre Zeit in der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen, Abteilung „Pädiatrische Psychosomatik“.
Hier lernen die Eltern ihre Kinder neu kennen – und finden oft erst hier heraus, wie das geht: Gute Erziehung.“
Nun gut, ich bin gespannt…
Kinder mit Ess-, Schlaf- und Regulationsstörungen
Am Anfang des Films sieht man Dietmar Langer, den Psychologen der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen, der vor den Eltern der zu behandelnden Kinder über das Grenzentesten der Kinder referiert und dabei an eine Tafel skizziert. Er wirkt kompetent und das, was er zu diesem Thema sagt, kommt mir nicht falsch oder schlecht vor, es macht Sinn.
Durch seine offene und nonchalante Art und sein Auftreten ohne Arztkittel weckt er Vertrauen. Die Eltern nicken eifrig bei allem, was er sagt und schreiben fleißig mit. Das ist also die “Elternschule” – erschließt sich dem Zuschauer.
Der Film geht weiter und so langsam begreift man, dass in dieser Klinik wohl Kinder mit Essstörungen, Schlafstörungen und Regulationsstörungen ganzheitlich behandelt werden sollen.
Das Mädchen mit der Regulationsstörung
Einige Minuten später eine Szene, in der ein Mädchen, maximal zwei Jahre alt, untersucht werden soll. Der Arzt erklärt der Mutter des Mädchens, dass der Hocker im Raum das Wichtigste Möbelstück sei. Sie solle sich dort hinsetzen, und egal was passiert dort sitzenbleiben, sich heraushalten. Ich denke in dem Moment – wieso? Das Mädchen ist in einem fremden Raum und braucht doch bei einer körperlichen Untersuchung durch fremde Menschen zumindest den Zuspruch und die Nähe ihrer Mutter, ihren sicheren Hafen.
Der Arzt erklärt weiter, dass die Untersuchung absichtlich im Untersuchungsraum stattfände und nicht in ihrem Patienten-Zimmer, da sie dies ja schon seit ein paar Tagen kenne und es somit schon ein bisschen ein schützender Rückzugsort wäre. Ich denke noch – ah, immerhin wollen sie das Patientenzimmer nicht mit den negativen Gefühlen der Untersuchung in Verbindung bringen. Kaum zu Ende gedacht, sagt der Arzt: “Indem wir das Kind also hier untersuchen, erhöhen wir den Stresslevel”, sagt er und lächelt dabei erklärend. Ich traue meinen Ohren nicht.
Das Mädchen wird von ihrer Mutter ausgezogen und dann dem Personal überlassen. Es beginnt zu schreien und sich zu wehren, wie ich erwartet hatte unter den gegebenen Umständen. Daraufhin sagt der Arzt zur Mutter: “Das ist absolut typisch. Das gehört zur Regulationsstörung”.
Ich traue meinen Ohren noch weniger und frage mich: Woher nimmt der Arzt diese Behauptung?
Ich denke, dass jedes normale, gesunde, altersgerecht entwickelte Kind in dieser Situation genau so reagiert hätte. In seinem Kommentar schreibt auch Kinderarzt Renz-Polster:
“Es ist absolut NORMAL, dass ein Säugling oder Kleinkind bei der ärztlichen körperlichen Untersuchung brüllt wie am Spieß und sich von seiner Mutter nicht trennen kann. Hier der Mutter zu erklären, das sei Anzeichen einer ‘Regulationsstörung’, wird alle Eltern, die diesen Film sehen, schwer erschrecken (viele Kinderärzte auch, die das tagtäglich in ihren Praxen erleben).”
Esstraining: Das Kinopublikum lacht, während mir die Tränen kommen
In den nächsten Szenen des Films geht es dann um das Thema Essen. Langer erklärt, dass bei diesem Thema der Druck rausgenommen werden muss, weil sich Kind und Eltern bei einem nicht-essen-wollenden Kind in einem Teufelskreis der Spannung und Erwartung befinden.
Ich stimme dem innerlich zu und folge weiter seinen Ausführungen. Er erklärt an einem Video, bei dem ein Junge mit Löffel gefüttert wird, was dort falsch läuft. Der Junge hat Möhren und Blumenkohl auf seinem Teller, er ist offensichtlich nicht begeistert, mehr erkennt man nicht.
Er soll nun entscheiden ob er einen Löffel Möhren oder einen Löffel Blumenkohl möchte, entscheidet sich für Möhren und wehrt diese dann aber ab. Das Publikum reagiert belustigt. Die den Jungen fütternde Frau sagt, dass er das Essen dann eben bleiben lassen müsse, wenn er es nicht essen möchte.
Daraufhin sagt der Junge: “Ich habe aber Hunger”. Langer, die Elternschule-Eltern im Film und das Publikum des Kinos amüsieren sich. Ich nicht, denn ich weiß nichts über den Jungen und wie das Problem entstand. Vielleicht ekelt er sich einfach vor dem Gemüse.
Wenig später sieht man, wie der kleine Junge am Mittagstisch im Video sich schwallartig übergibt. Langer, die Eltern und das Kinopublikum um mich herum brechen in schallendes Gelächter aus. Ich breche in Tränen aus.
Hier machen sich Erwachsene lustig über ein Kind, das machtlos und wehrlos ist und offensichtlich bis zum Erbrechen in dieser Situation festgehalten wurde.
Ich finde das alles andere als lustig, bin empört über die Menschen, die um mich herumsitzen. Mir wird klar, dass keiner hier her kam, um den Film mit offenen Augen zu betrachten. Ich krame meine Taschentücher heraus und fühle mich machtlos im Angesicht von so viel Ignoranz und so wenig Empathie.
Kinder werden in ihrer Not einfach ignoriert
Nun geht es im Film um das Trennungstraining. Den Müttern wird erklärt, dass ihre Kinder sich alleine in der sogenannten “Mäuseburg” aufhalten werden. Sie sollen ihre Kinder dort hinbringen, sich verabschieden und dann frühstücken gehen. Für einige Kinder ist das offensichtlich die erste Trennung von der Mutter.
Im Raum angekommen, beginnen die Kinder sofort bitterlich zu weinen. Ein kleiner Junge weint ganz besonders schlimm, er wirkt panisch vor Angst und Trennungsschmerz. Mir bricht das Herz. Und obwohl Klinikpersonal im Raum anwesend ist, werden die Kinder ignoriert in ihrem Schmerz.
Kein Versuch der Ablenkung, keine warmen Worte. Einem Mädchen wird in dieser großen Stresssituation sogar noch ihr Nuckel abgenommen. Ein Nuckel heißt ja auch Beruhigungssauger, aber Beruhigung mit Hilfe ist hier offensichtlich nicht erwünscht.
In einer anderen Einstellung erklärt Langer, dass die erste Trennung, unabhängig vom Alter mindestens eine halbe Stunde bis hin zu 4 Stunden dauern sollte. Ich wundere mich darüber, denn: Warum sehen dann die Eingewöhnungsmodelle für Kinderkrippen ganz anders aus? Dort beginnt man die ersten Trennungsversuche möglichst sanft, damit das Kind Vertrauen fassen kann, dass Mama oder Papa auch wirklich wiederkommen.
Langer erklärt weiter, dass es falsch wäre, das Kind am Maximum des Stresspegels wieder abzuholen, denn damit würde es ja nur lernen, dass es erlöst wird, wenn es wirklich schlimm wird. Man wolle ja, dass sich das Kind von selbst beruhigtund dafür müsse man einfach nur lange genug warten.
Ich zweifle an dieser Erklärung. Meiner Meinung nach ist ein Kind in diesem Alter schlicht und ergreifend nicht in der Lage, sich selbst zu beruhigen. In einer solchen Situation kommt hinzu, dass es den Erwachsenen klar unterlegen ist und sich daraus nicht selbst befreien kann. Das Kleinkind-Hirn gerät in eine akute Krise und zum Selbstschutz vor übergroßem Stress schaltet es einfach ab. Das Kind wird ruhig, nicht weil es sich selbst beruhigt hat und plötzlich keine Panik mehr hat, sondern weil es aufgeben muss.
Experten wie der Bindungsforscher Karl Heinz Brisch nennen diesen Zustand Dissoziation: Das Abschalten aller Gefühle.
In den nachfolgenden Minuten des Films ist mir einfach nur noch schlecht angesichts des Bildes, welches hier von Kindern gezeichnet wird. Kinder werden dargestellt, als würden sie nichts anderes zum Ziel haben, als gegen ihre Eltern zu kämpfen. Als würden sie nur Böses wollen und Strategien entwickeln, um ihre Eltern weichzukochen um ihren Willen durchzusetzen.
Es wird von Machtkämpfen zwischen Erwachsenen und Kindern gesprochen und der Eindruck vermittelt, an solchen Machtkämpfen wären allein die Kinder Schuld. Schlimm genug, dass das als normal hingestellt wird, aber ist nicht klar, wer in einem solchen Kampf den Kürzeren zieht? Von Erziehung auf Augenhöhe hat hier offensichtlich noch keiner etwas gehört.
Das Schlaftraining im Film war besonders schlimm zu ertragen
Ein Thema des Films ist mir besonders schlimm in Erinnerung geblieben: das Schlaftraining. Die Kinder sollen in der Klinik lernen, alleine einzuschlafen. Auch ein kleiner Junge, der in seinem bisher kurzen Leben wohl aufgrund einer ernsten Erkrankung schon viele Operationen hinter sich hat, soll zum ersten Mal ohne seine Eltern schlafen.
Diese sind sichtlich nervös, angespannt, ängstlich und es ist offensichtlich: es geht ihnen bei diesem Gedanken nicht gut. Dennoch lassen sie sich auf die Erklärungen des Personals ein und vertrauen darauf, dass es wohl wichtig und richtig ist für den Jungen. Sie schieben ihn in einem Gitterbett mit riesigen Stäben, mich erinnert es an ein Gefängnis, in einen fremden Raum.
Dann bekommen sie die Anweisung, sich zu verabschieden und das Licht auszuschalten. Nach langem Zögern und unter Tränen schafft es die Mutter und befolgt die Anweisungen. Der Junge, der augenscheinlich zum ersten Mal länger von seiner Mutter getrennt sein wird, fängt bitterlich an zu weinen und muss ganz allein die Nacht in einem fremden, dunklen Raum verbringen. Ein kleiner Junge, der zweifelsohne schon viele traumatische Erlebnisse hinter sich hat. Ich brauche wieder meine Taschentücher…
Später sieht man, dass der Junge sich hinlegt und schläft. Aber ich bin mir sicher: er ist nicht plötzlich entspannt und hat sich beruhigt. Sein kleiner Körper hat keine andere Wahl gehabt als in dieser Notsituation Ressourcen zu sparen und abzuschalten. Er wurde gebrochen. Er schläft, weil er zu nichts anderem mehr Kraft hat.
Ich kann nicht gutheißen, was Kindern in dieser Klinik angetan wird
Ich bin mir nun sicher, dass ich nicht viel gutheißen kann, was in der Klinik passiert oder gesagt wird. Man sieht im Film Szenen, in denen ein Junge beim “Spazierengehen” von zwei Angestellten der Klinik meterweit mitgezogen, eigentlich mitgeschleift wird, weil er nicht laufen mag, oder nicht mehr kann?
Man sieht, wie eine Angestellte einen kleinen Jungen in den Schwitzkasten nimmt, weil dieser zum Essen nicht auf ihrem Schoß sitzen bleiben will, weil er einfach nicht essen will. Schlimmer noch, sie setzt sich dann auf den Boden, zieht den Jungen zwischen ihre Beine und schlingt diese über ihm zusammen, damit er nicht auskommt, um ihm dann den Löffel mit Essen vor die Nase zu halten. Wer will so essen?, frage ich mich und mir wird noch schlechter.
Später im Film wird einer Mutter mit ihrer Tochter sogar das Hand-in-Hand-Gehen auf dem Flur verboten. Das Mädchen ist das Kind, das von einer Angestellten der Klinik als “Prinzessin” bezeichnet wird, weil ihre Mutter bisher alles dafür getan hat, dass es ihr gut geht.
Wohlgemerkt kam diese Familie erst vor zwei Jahren nach Deutschland, als Flüchtlinge! Mir leuchtet ein, warum man unter diesen Umständen besonders bemüht ist um das Wohl des einzigen Kindes, wenn man sonst wahrscheinlich alles verloren hat. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses Kind bisher viel “Prinzessinnenhaftes” erlebt hat.
Am Ende sieht man funktionierende Kinder
Am Ende sieht man Einstellungen, in denen Kinder artig nickend ein Abschlussgespräch mit Dietmar Langer führen. Man sieht erlöste Eltern, die sich brav bedanken. Ärzte erzählen etwas von “sie ist jetzt führbar…” und wie toll doch alles geklappt hat.
Ich jedoch bin mir nicht sicher, ob diese Kinder nun gesunde glückliche Kinder sind, oder ob sie gelernt haben zu funktionieren und nun den so dringend gewünschten Gehorsam aufweisen.
Der Film ist vorbei und ich muss dringend aus diesem Saal, um frische Luft zu atmen.
Ich stehe völlig aufgelöst und verweint vor dem Kino und rufe meinen Mann an um ihm zu sagen, dass ich noch einen Moment brauche, bevor ich zurückkommen kann. So möchte ich nicht heimkommen. Also nehme ich mir ein paar Minuten länger und denke daran, wie mein Sohn mich gleich begrüßen wird, wenn ich nach Hause komme.
Ich denke an sein Strahlen wenn er auf mich zuläuft und langsam beruhige ich mich und gehe nach Hause. Am Abend bringe ich ihn ins Bett. In unser Familienbett, das für ihn und uns Geborgenheit und Nähe bedeutet.
Ich gebe meinem Sohn ein Versprechen
Für uns fühlt es sich völlig normal an, gemeinsam zu schlafen, denn der Mensch war am schutzlosesten schon immer im Schlaf. Mit seinen fast 1,5 Jahren wird unser Sohn noch jeden Abend von einem von uns in den Schlaf begleitet. Es braucht nicht selten über eine Stunde bis er tief und fest schlafen kann, eng angekuschelt.
So auch heute Abend wieder. Er drückt sein kleines warmes Gesicht ganz fest an meines, ich spüre seinen Atem an meiner Wange und seinen Arm um meinen Hals. Seine kleine weiche Hand greift immer wieder nach meinem Ohr, als würde er sich beim Einschlafen vergewissern, dass ich auch wirklich noch da bin.
Und mir war nie klarer als in diesem Moment: er ist perfekt so wie er ist: mit seiner eigenen Meinung, mit seiner Freude und seiner Wut, mit aufbrausendem Temperament und oft ganz anderen Vorstellungen als wir Erwachsenen, mit seiner “Unfähigkeit” wie ein Erwachsener zu schlafen und mit wechselndem Appetit, mit seinem eigenen Kopf und ganz vielen, oft überschäumenden Gefühlen und seinen Tränen, wenn ich mich verabschiede weil ich zur Arbeit muss. Eben ein ganz normales kleines Kind.
Und im Dunkeln verspreche ich ihm ganz fest, dass ich solange ich kann immer da sein werde, wenn er mich braucht. Auch oder vor allem zum Einschlafen. Und ich bin froh, denn ich weiß: diese kleine Seele ist nicht gebrochen. DAS wünsche ich allen Kindern dieser Erde!